Agrarwirtschaft 56 (2007), Heft 7
Ernst Engels Entdeckung vor 150 Jahren
Michael Grings
Martin-Luther-Universitat Halle-Wittenberg
„Je armer eine Familie ist, einen desto grôsseren Antheil
von den Gesamtausgaben muss sie zur Beschaffung der
Nahrung aufwenden.“ (Engel, 1895: 26)
Es muss nicht unbedingt diese Formulierung aus dem Jahr
1895 sein, aber kennen muss das Engelsche Gesetz jeder
Student der Wirtschafts- und Agrarwissenschaften, handelt
es sich doch um eines der wichtigsten Okonomischen Geset-
ze, genauer gesagt: um eine der bekanntesten Hypothesen
aus der Theorie der Haushaltsnachfrage. Entdeckt hatte der
Regierungsrath Dr. Ernst Engel den Zusammenhang zwi-
schen Nahrungsmittelausgaben und Einkommen bereits ca.
40 Jahre zuvor, damals in seiner Funktion als Direktor des
Koniglich Sachsischen Statistischen Bureaus, als er sich mit
den beiden 1855 erschienenen Arbeiten von Ducpetiaux
und Le Play beschaftigte, in denen Haushaltsbudgetdaten
publiziert worden waren. Besonders ergiebig für seine ei-
genen Berechnungen, die er 1857 dem Fachpublikum vor-
stellte, waren die von Ducpetiaux verOffentlichten Daten
für belgische Arbeiterhaushalte. So sehr Engel auch die
Arbeiten der beiden Autoren schatzte, so deutlich ist doch
seine Kritik, dass die Wiedergabe der Daten, wenn sie keine
verallgemeinernden Schlussfolgerungen enthalt, „zwar
Perlen (liefert), aber keine Schnur dazu, an die man sie
reihen kOnnte“ (Engel, 1857: 156). Die Verbindung der
Perlen zur Kette gelang ihm mit der oben zitierten Schluss-
folgerung, die er, in etwas anderer Formulierung, bereits
1857 als „Gesetz“ bezeichnete.
Zwei weitere seiner Schlussfolgerungen haben einen so
hohen Verallgemeinerungsgrad, dass sie ebenfalls die Zeit
überdauert haben und noch heute Verwendung finden: Die
zweite Schlussfolgerung, die aus der ersten abgeleitet ist,
lautet, ,,daβ das Maβ der Ausgaben für die Ernahrung unter
übrigens gleichen Umstanden ein untrügliches Maβ des
materiellen Befindens einer BevOlkerung überhaupt ist“
(Engel, 1857: 169). Eine Weiterentwicklung dieses Ge-
dankens ist spater in der angewandten Wohlfahrtsanalyse
und der Armutsforschung zur Bildung eines indirekten, d.h.
monetaren Wohlfahrtsmaβes für den Vergleich zwischen
Haushalten mit unterschiedlicher Zusammensetzung ge-
nutzt worden: Wenn zwei Haushalte unterschiedlicher GrO-
βe den gleichen Anteil ihrer Gesamtausgaben auf Nah-
rungsmittel verwenden, dann liegt es nahe anzunehmen,
dass sie über das gleiche Realeinkommen verfügen, und die
Differenz ihrer Nominaleinkommen kann als Indikator für
die Zusatzkosten aufgefaβt werden, die der groβere im
Vergleich zum kleineren Haushalt zu seiner Erhaltung auf-
wenden muss (vgl. Deaton und Muellbauer, 1980: 193,
und Sen, 1981: 30). Die dritte Schlussfolgerung kOnnte von
einem heutigen Gesetzgeber verwendet werden, um eine
Absenkung des Mehrwertsteuersatzes für Nahrungsmittel
gegenüber dem Normaltarif zu begründen: „Gleichzeitig ist
hiermit auf inductivem Wege ein oft zu vernehmender
Ausspruch mathematisch bewiesen, der namlich: daβ die
armeren Classen verhaltniβmaβig den groβten Theil der
indirecten Steuern tragen“ (Engel, 1857: 170).
In einem Punkt hat Ernst Engel in seinem Bemühen um
Verallgemeinerung das von ihm selbst gesteckte Ziel nicht
erreicht und sicherlich auch nicht erreichen kOnnen: Als
Statistiker versuchte er, das von ihm gefundene „Gesetz“
durch „einen pracisen mathematischen Ausdruck“ zu be-
schreiben - vergeblich, wie er selbst bedauernd feststellt
(vgl. Engel, 1857: 170). Statt dessen verdichtete er die ihm
zur Verfügung stehenden Daten auf wenige Durchschnitts-
werte und konstruierte durch Interpolation und Extrapola-
tion dieser Werte eine Tabelle, in der verschiedenen Ein-
kommensniveaus hypothetischer Haushalte entsprechende
Ausgabenanteile für Nahrungsmittel gegenübergestellt
wurden. Es ist bis heute nicht vollstandig geklart, welche
Methode er bei den Berechnungen für diese Veranschauli-
chung seines „Gesetzes“ verwendete (vgl. Perthel, 1975).
Interessanterweise weist er aber darauf hin, dass „die Gren-
zen noch nicht genau bezeichnet werden konnten, innerhalb
welcher die Function, mit der man es hier zu thun hat, blos
seine Richtigkeit behauptet“ (Engel, 1857: 170), mit ande-
ren Worten: Er war sich darüber im klaren, dass sein „Ge-
setz“ keinen universellen Charakter hatte, sondern Ein-
schrankungen unterlag.
Der von Engel gesuchte mathematische Ausdruck ist Oko-
nomen heute als die alternative Formulierung des Engel-
schen Gesetzes gelaufig, dass die Einkommenselastizitat
der Nahrungsmittelnachfrage kleiner als eins ist. Den Be-
griff der Elastizitat konnte Engel nicht kennen, da dieser
erst 1885 von Alfred Marshall in die Okonomische Literatur
eingeführt wurde (vgl. Newman). Zwar war ihm die Be-
schreibung des Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs von
Menge und Preis mit Hilfe von Prozentzahlen vertraut, wie
seine Berechnungen zur Kingschen Regel aus dem Jahr
1861 zeigen (vgl. Stigler, 1954: 104, und Perthel, 1975:
217f.). Dennoch konnte für ihn eine Übertragung dieses
Konzeptes auf den Zusammenhang zwischen Einkommen
und Verbrauchsmenge nicht naheliegen. Zum einen unter-
suchte er den komplizierteren Zusammenhang zwischen
Einkommen und Ausgabenanteilen, und zum anderen war
die Okonomische Theorie der Haushaltsnachfrage noch
nicht so weit ausgearbeitet, dass es mOglich gewesen ware,
Nachfragebeziehungen in konsistenter Weise unter gleich-
zeitiger Betrachtung der Variablen Menge, Preis und Ein-
kommen zu untersuchen.
Offensichtlich war Ernst Engel seiner Zeit voraus. Das zeigt
sich auch darin, dass seine Entdeckung zunachst kaum
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