Agrarwirtschaft 56 (2007), Heft 7
Beachtung fand. Bis zum Wiederabdruck der Untersuchung
im Jahr 1895 gab es nur wenige Studien, die auf seinen
Artikel Bezug nahmen. Dabei kam es - wie auch in der
Folgezeit - zu Missverstandnissen (vgl. Zimmermann,
1932). So bezogen einige Autoren die Betrachtung von
Ausgabenanteilen auβer auf die Ausgaben fur Nahrungs-
mittel auch auf die für Bekleidung und andere Nachfrage-
kategorien und meinten, das von ihnen so verstandene
Engelsche Gesetz anhand der ihnen vorliegenden Daten
widerlegen zu konnen, weil sie bei steigendem Einkommen
z.T. ebenfalls steigende Ausgabenanteile für diese anderen
Kategorien fanden. Nun hat Engel zwar bei der Interpreta-
tion seiner Berechnungen auch die Ausgaben für andere
Nachfragekategorien kommentiert (vgl. Engel, 1857: 169),
sein „Gesetz“ von den abnehmenden Ausgabenanteilen
formulierte er dagegen nur im Hinblick auf Nahrungs-
mittel.
Obwohl es sich hier also um Missverstandnisse handelte,
muss doch nach dem Gültigkeitsbereich des Engelschen
Gesetzes gefragt werden, zumal bereits Ernst Engel auf
mogliche Einschrankungen - wenn auch nur in der oben
zitierten Form - hingewiesen hat. Zimmermann (1932)
führt eine Reihe von Studien an, die in verschiedenen Lan-
dern durchgeführt wurden und in denen das Engelsche
Gesetz z.T. nicht bestatigt werden konnte. Bei den negati-
ven Befunden handelt es sich allerdings vorwiegend um
Daten aus Entwicklungslandern und dort von Haushalten
mit sehr niedrigem Einkommen. Für die Vermutung, dass
das Engelsche Gesetz in einer solchen Konstellation keine
Gültigkeit besitzt, findet Zimmermann plausible Begrün-
dungen. So kann es z.B. in Haushalten, die zunachst ohne
umfangreiche Marktbeziehungen Landwirtschaft weitge-
hend zur Selbstversorgung betreiben, bei steigendem Ein-
kommen zu einer überproportionalen Erhohung der Nah-
rungsmittelausgaben kommen, weil einfache und mogli-
cherweise wenig schmackhafte Nahrungsmittel aus der
Eigenproduktion nunmehr durch eine qualitativ hochwerti-
gere und variantenreichere Nahrung ersetzt werden konnen.
Dabei kommt es i.d.R. zu einer Erhohung des Anteils tieri-
scher zu Lasten des Anteils pflanzlicher Produkte. Dieses
Erklarungsmuster greift um so eher, wenn die Ausgaben für
Bekleidung, Wohnung und evtl. weitere Nachfragekatego-
rien vorwiegend durch traditionelle Verhaltensmuster de-
terminiert werden und deshalb eine nur geringe Einkom-
mensabhangigkeit aufweisen. Haushalte, auf die eine solche
Beschreibung zutrifft, gab es im 19. und frühen 20. Jahr-
hundert sicherlich auch noch in landlichen Gebieten der
Industrielander, wodurch erklarbar erscheint, dass für die-
sen Zeitraum auch für Deutschland Untersuchungen existie-
ren, in denen Verletzungen des Engelschen Gesetzes fest-
gestellt wurden.
Allerdings zitiert Zimmermann auch einige Ausnahmen
zum Engelschen Gesetz, bei denen die Haushalte, deren
Daten erhoben wurden, nicht zu den armsten Bevolke-
rungsschichten gehorten. Obwohl er nicht explizit darauf
hinweist, scheint aber zumindest in einigen dieser Falle die
Unterscheidung zwischen Vermogen und Einkommen eine
Rolle zu spielen: So werden z.B. die Haushalte einer in
China durchgeführten Studie deshalb als nicht arm bezeich-
net, weil sie Hauseigentümer waren und sonstiges Eigen-
tum besaβen. Verfugungsgewalt über Eigentum muss aber
in traditionellen Gesellschaften nicht zwingend mit einem
hohen Einkommen verbunden sein.
Wenn also vermutlich die meisten der von Zimmermann
aufgefuhrten Abweichungen vom Engelschen Gesetz auf
ein niedriges Einkommensniveau der befragten Haushalte
zuruckgefuhrt werden konnen, so findet sich doch nicht fur
alle Abweichungen eine einfache Erklarung - und dies auch
dann nicht, wie Zimmermann betont, wenn eine Bereini-
gung der Zahlen um die Haushaltsgroβe vorgenommen
wird. Eine solche Standardisierung stellt sicherlich den
elementarsten Schritt zur Herstellung der ceteris-paribus-
Bedingung dar, ohne die strenggenommen ein Vergleich
der Ausgabendaten und damit eine Überprufung des Engel-
schen Gesetzes nicht moglich ist (vgl. Houthakker,
1987a). Die Notwendigkeit, Vergleichbarkeit herzustellen,
war bereits Engel bewusst, wie die zweite oben angefuhrte
Schlussfolgerung zeigt. So rechnete er die von Ducpetiaux
publizierten Daten in Pro-Kopf-Zahlen um, wobei er aller-
dings mangels detaillierterer Angaben von der haufigsten
Haushaltsgroβe ausging und diese unterschiedslos auf alle
Haushaltsausgaben anwandte (vgl. Engel, 1857: 167). In
seiner spateren Studie (Engel, 1895: 4-8) ging er mit der
Gewichtung der einzelnen Haushaltsmitglieder nach Alter
und Geschlecht einen entscheidenden Schritt weiter und
schuf auf diese Weise vermutlich das erste auf direktem
Wege gebildete „Erwachsenenaquivalent“.
Fur die Entwicklung verschiedener okonomischer Theorien
hat sich Engels Hypothese als auβerordentlich wichtiger
Baustein erwiesen. Die Bedeutung seiner Untersuchung fur
die Entwicklung der Theorie der Haushaltsnachfrage ist
offensichtlich und der Beitrag fur die Wohlfahrtsanalyse
und die Armutsforschung ist oben erwahnt worden. Dabei
war es „nicht ein sozialpolitischer, sondern ein gewerbepo-
litischer Grund“ (Engel, 1895: 25), der Engel veranlasste,
sich mit den Haushaltsbudgetdaten von Ducpetiaux zu
beschaftigen, so dass sein „Gesetz“ tatsachlich eine Entde-
ckung, d.h. ein nicht bewusst angestrebtes Ergebnis seiner
Arbeit war. Sein Ziel bestand in erster Linie darin, in der
Auseinandersetzung mit der Malthusschen Bevolkerungs-
theorie und im Hinblick auf die sektorale Verteilung der
Arbeitskrafte die Bedingungen fur eine gleichgewichtige
Entwicklung von Produktion und Verbrauch in den einzel-
nen Wirtschaftszweigen zu finden, die dem Wachstum der
Bevolkerung entsprach. Das von ihm gefundene „Gesetz“
impliziert, dass es dabei keine proportionale Entwicklung
der Wirtschaftszweige geben kann. Insofern wurde das
Engelsche Gesetz zu einem Grundbaustein von Theorien
der langfristigen sektoralen Wirtschaftsentwicklung (vgl.
z.B. Kindleberger, 1989).
Daruber hinaus fanden Entwicklungsokonomen wie Pre-
bisch und Singer im Engelschen Gesetz eines ihrer Erkla-
rungsmuster fur die von ihnen vertretene These von der
langfristigen Verschlechterung der Terms of Trade der
Entwicklungslander (vgl. Hemmer, 1977). Eine zentrale
Bedeutung hat das Engelsche Gesetz fur die Erklarung der
langfristigen Entwicklung des Agrarsektors im sektoralen
Gefuge der Volkswirtschaften der Industrielander: Im Zu-
sammenspiel mit einer hohen Produktivitatssteigerung in
der Landwirtschaft ist die geringe Einkommenselastizitat
der Nahrungsmittelnachfrage die wichtigste Determinante
des langfristigen Preis- und Anpassungsdrucks, der auf dem
Sektor lastet (vgl. z.B. Schultz, 1945, und Hanau, 1958).
Durch Ernst Engels Untersuchung wurde wahrend der ver-
gangenen 100 Jahre weltweit eine nicht zu uberblickende
Zahl von Studien angeregt. Datengrundlage hierfur waren
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