Agrarwirtschaft 56 (2007), Heft 7
haufig die zunehmend durchgeführten Haushaltsbudgeter-
hebungen. Die ersten umfassenden sog. Wirtschaftsrech-
nungen wurden im Deutschen Reich vom Statistischen
Reichsamt in den Jahren 1907 und 1927/28 durchgeführt.
Die erste Einkommens- und Verbrauchsstichprobe für die
Bundesrepublik Deutschland datiert aus dem Jahr 1962/63.
Querschnittsdaten dieser Art werden im Hinblick auf die
Einhaltung der ceteris-paribus-Bedingung zumeist als eher
geeignet angesehen als Zeitreihendaten, um die Gültigkeit
des Engelschen Gesetzes zu überprüfen, da bei Zeitreihen-
daten sich andernde Preise und Praferenzen in Rechnung zu
stellen sind. Allerdings ist zu vermuten, dass auch bei einer
Querschnittsbetrachtung nicht etwa konstante, sondern mit
dem Einkommen variierende Praferenzen vorherrschen
werden. Auβerdem muss bekanntlich bei Querschnittsdaten
eine mit steigendem Einkommen steigende Nachfrage nach
qualitativ hochwertigen Produkten, die sich in steigenden
Durchschnittspreisen der Produktgruppen auβert, berück-
sichtigt werden (vgl. Houthakker, 1987b). Dadurch ist
der Ausgabenanteil für Nahrungsmittel in hoheren Ein-
kommensklassen groβer als dies unter der strikten ceteris-
paribus-Bedingung der Fall ware. Jedoch handelt es sich bei
beiden Effekten vermutlich weitgehend um endogene, d.h.
durch die Variation des Einkommensniveaus induzierte
Erscheinungen, in denen deshalb keine Verzerrung der
Betrachtung im Hinblick auf das Engelsche Gesetz gesehen
werden muss. Letztlich wird jedoch nur eine Modellanalyse
in der Lage sein, die für die Überprüfung der Gültigkeit des
Engelschen Gesetzes notwendige ceteris-paribus-Bedingung
herzustellen.
Eine andere Frage ist, worauf sich die Nachfrage vornehm-
lich richtet, die sich in den Ausgaben der privaten Haushal-
te für Nahrungsmittel niederschlagt. Bereits 1957 haben
Bunkers und Cochrane in einer Modellanalyse für die
USA nachgewiesen, dass die Einkommenselastizitat der
Nachfrage nach den komplementaren Sach- und Dienstleis-
tungen, deren monetares Àquivalent in den Ausgaben für
Nahrungsmitteln enthalten ist, deutlich groβer ist als die
Einkommenselastizitat der Nachfrage nach dem landwirt-
schaftlichen Rohstoffanteil. Mittlerweile wird für die meis-
ten entwickelten Volkswirtschaften davon auszugehen sein,
dass sich das Wachstum der Nahrungsmittelausgaben fast
ausschlieβlich aus der Umorientierung der Nachfrage auf
qualitativ hochwertigere Produkte und einer wachsenden
Nachfrage nach komplementaren Sach- und Dienstleistun-
gen speist. Der letztgenannte Punkt bedeutet, dass aus der
Veranderung des Ausgabenanteils für Nahrungsmittel bei
steigendem Einkommen nur noch in begrenztem Umfang
Schlussfolgerungen für die Landwirtschaft abgeleitet wer-
den konnen. Dies gilt auch für den erstgenannten Punkt,
wenn landwirtschaftliche Rohprodukte unveranderter Qua-
litat zu hochwertigeren Endprodukten verarbeitet werden.
Aufgrund dieser Überlegungen haben die folgenden, aus
deutschen Haushaltsbudgeterhebungen zusammengestellten
Zahlen sicherlich nur eine begrenzte Aussagekraft, zumal in
den verschiedenen Erhebungen z.T. unterschiedliche me-
thodische Vorgehensweisen gewahlt worden sind. Dennoch
ergeben sich aus diesen Zahlen im langfristigen und im
Querschnittsvergleich zumindest in grober Annaherung
Anhaltspunkte für die Gültigkeit des Engelschen Gesetzes.
So betrug der Ausgabenanteil für Nahrungsmittel i.e.S.
(ohne Genussmittel, ohne alkoholfreie Getranke und ohne
Ausgaben für den Verzehr auβer Haus) im Jahr 1927/28 im
Durchschnitt für Arbeiterhaushalte 41,4 %, für Angestell-
tenhaushalte 31,0 % und für Beamtenhaushalte 30,3 %, mit
in dieser Reihenfolge der Haushaltstypen ansteigendem
Durchschnittseinkommen (vgl. Statistisches Jahrbuch für
das Deutsche Reich 1930). In der DDR betrug der Anteil
der Ausgaben für Nahrungsmittel einschlieβlich gesell-
schaftlicher Speisung an den Verbrauchsausgaben für Kon-
sumgüter und Leistungen bei Arbeiter- und Angestellten-
haushalten im Jahr 1960 32,6 %, im Jahr 1975 23,4 % und
im Jahr 1988 18,9 % (vgl. Statistisches Jahrbuch der Deut-
schen Demokratischen Republik 1989). Für den Durch-
schnitt aller Haushalte der Bundesrepublik Deutschland
betrug dieser Anteil in der obigen Abgrenzung im Jahr
1962/63 29,0 %, im Jahr 1973 17,6 % und im Jahr 1988
12,6 % (Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchs-
stichproben, vgl. Statistisches Jahrbuch über Ernahrung,
Landwirtschaft und Forsten der Bundesrepublik Deutsch-
land, versch. Jg.). Im Jahr 2003 ist der Anteil im Durch-
schnitt der Haushalte auf 9,0 % gefallen, wobei er bei
Haushalten mit einem monatlichen Nettoeinkommen bis
900 € im Durchschnitt 11,7 % und bei Haushalten mit ei-
nem Nettoeinkommen zwischen 5 000 und 18 000 € 7,1 %
ausmachte. Der Unterschied zwischen den Ausgabenantei-
len von Haushalten mit niedrigem und hohem Einkommen
ist also bemerkenswert gering geworden.
Da das Engelsche Gesetz aber offensichtlich auch heute
noch gilt, stellt sich die Frage, welche Rolle es in der
Offentlichen Fachdiskussion spielt. Hier scheint es Aufkla-
rungsbedarf zu geben. Zumindest drangt sich dieser Ein-
druck angesichts mancher ÀuBerungen auf. So ist es wohl
ein Missverstandnis, das mit Hinweis auf das Engelsche
Gesetz aufgeklart werden kann, wenn behauptet wird, mit
dem nunmehr in Deutschland erreichten niedrigen Anteil
der Nahrungsmittelausgaben an den gesamten Verbrauchs-
ausgaben der privaten Haushalte sei die Untergrenze er-
reicht; niedriger kOnne der Anteil nicht mehr werden. Ohne
die Leistungen der modernen Landwirtschaft schmalern zu
wollen, mOchte man den Namen Ernst Engel auch dann ins
Spiel bringen, wenn dieser niedrige Ausgabenanteil einsei-
tig auf die Rationalisierungserfolge der Landwirtschaft
zurückgeführt wird. Und selbst die haufig zu hOrende Aus-
sage, die Landwirtschaft sei die wichtigste Inflationsbrem-
se, ist bei der gebotenen differenzierenden Betrachtungs-
weise nicht ohne Berücksichtigung des Engelschen Geset-
zes zu beurteilen. Aber 150 Jahre waren wohl noch kein
ausreichend langer Zeitraum für seine Verbreitung.
Literatur
Bunkers, E.W. und W.W. Cochrane (1957): On the Income
Elasticity of Food Services. In: The Review of Economics and
Statistics 39 (2): 211-217.
Deaton, A. und J. Muellbauer (1980): Economics and con-
sumer behavior. Cambridge University Press, Cambridge usw.
Engel, E. (1857): Die vorherrschenden Gewerbszweige in den
Gerichtsamtern mit Beziehung auf die Productions- und Con-
sumtionsverhaltnisse des KOnigreichs Sachsen. II. Das Gesetz
der Dichtigkeit. In: Zeitschrift des Statistischen Bureaus des
KOniglich Sachsischen Ministeriums des Inneren 3 (8 und 9),
22. November 1857: 153-182. (Zweiter Teil eines zweiteiligen
Artikels; der erste Teil ist am 8. November 1857 in der Doppel-
nummer 6 und 7 des gleichen Jahrgangs der Zeitschrift auf
den Seiten 129 bis 152 mit dem Untertitel „I. Der gewerbliche
Charakter als die Grundlage der Dichtigkeit der BevOlkerung“
erschienen. Der zweite Teil wurde mit dem verkürzten Titel
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