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Der Zeitverzogerungseffekt manifestiert sich mehrfach. Zunachst dauert es eine geraume Zeit bis
eine Gesetzes- oder Verfassungsinitiative zur Abstimmung gelangen kann. Ausgehend von der
Formierung einer Unterstützungsgruppe, der Einwerbung von Spendengeldern, der Ausarbeitung
eines Entwurfs, der anschlieβenden Unterschriftensammlung bis hin zur Vorbereitung und Durch-
führung der eigentlichen Abstimmungskampagne kann es mehrere Jahre dauern, bis es zu einer
Abstimmung kommt (Shultz 1996: 99). Bei einem Scheitern kann sich der Prozeβ der Wiedervor-
lage noch langer erstrecken. Gerade bei Abstimmungen im Gesundheits- und Umweltsektor, über
Steuern oder über moralisch-ethische Fragen hat sich gezeigt, daβ ahnliche Gesetzesvorhaben dem
Demos wiederholt prasentiert werden. Ein weiteres Problem stellt sich bei der Umsetzung durch die
Verwaltung, wenn Verfassungsvorschriften nicht eindeutig formuliert werden.
Sozialpolitische Entscheide eignen sich auch hervorragend zum strategischen Einsatz, insbesondere
zum Agenda-setting und zur Polarisierung der Bevolkerung. Zur Erhohung seiner Wiederwahl-
chancen lancierte Gouverneur Pete Wilson 1994 die Proposition 187. Vor der Wahl gab es eine
Rezession in Kalifornien, die Wilson durch eine Kürzung des Sozialbudgets überwinden wollte. Mit
Proposition 187 gelang es zudem noch, populistische Themen in den Mittelpunkt des Wahlkampfes
zu stellen. Die Vorlage, die ein Einsparvolumen von 200 Millionen Dollar umfaβte, sah vor, illega-
len Immigranten keine Sozialleistungen zu gewahren. Insbesondere sollten illegale Einwanderer,
beziehungsweise deren Kinder, vom offentlichen Schulbesuch ausgeschlossen werden und keine
Krankenfürsorge erhalten. Am Abstimmungstag wurde die Vorlage mit 58,9% angenommen, wo-
bei weiβe Wahler sogar mit 63% für die Vorlage stimmten. Allerdings gab es einen beachtenswer-
ten Gender gap: Frauen stimmten mit 56% dagegen, wahrend bei den Mannern die Vorlage mit
67% eine deutliche Mehrheit fand (Shultz 1996: 4). Für die Sozialpolitik ist die Entscheidung inso-
fern charakteristisch, als sie den Cleavage zwischen den Begünstigten sozialpolitischer Maβnahmen
verdeutlicht. Illegale Immigranten oder alleinerziehende junge Mütter sind dabei die klassischen
Beispiele für „undeserving poor“, die keine Sozialleistungen „verdient“ haben (vgl. auch Billerbeck
1989). Sozialleistungen für „deserving poor“, zu denen Kriegsveteranen, Kriegsinvalide, Blinde
und andere Behinderte zahlen, haben dagegen gute Chancen, in Volksabstimmungen auch ange-
nommen zu werden, da hier das Fürsorgeprinzip - das Strukturmerkmal des liberalen Wohlfahrts-
staates (Esping-Andersen 1990) - zum Tragen kommt. Hatte Kalifornien noch bis Anfang der
neunziger Jahre die groβzügigsten AFDC-Leistungen, wurden diese allerdings nach einer Wohl-
fahrtstaatsreform deutlich zurückgefahren, wobei bei annahernd konstantem Bezieherkreis die Lei-
stungen reduziert wurden. Somit kann ein etwas anders gelagerter Struktureffekt ausgemacht wer-
den, der sich in der unterschiedlichen Priviligierung der Adressaten der Sozialpolitik niederschlagt.
Nicht alle restriktiven und expansiven Maβnahmen werden umgesetzt. Die politische Auseinander-
setzung findet oftmals ihren Fortgang vor dem Supreme Court des Staates Kalifornien. Zwischen
1964 und 1990 wurden 14 von 35 angenommenen Initiativen im nachhinein vom Verfassungsge-
richt teilweise (8) oder ganz (6) für nichtig erklart (Democracy by Initiative 1992: 303). Trotz die-
ses - auf den ersten Blick - vergleichsweise hohen Prozentanteils von 40%, wird den Verfassungs-
richtern eher eine zurückhaltende Rolle bei der juristischen Überprüfung bescheinigt (Democracy
by Initiative 1992: 305), da diese durchaus die Problematik einer nachtraglichen Annulierung einer