Wettbewerbs- und Industriepolitik
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Problem der Angleichung aller Lebens- und Arbeitsbedingungen im Raum zu einer An-
gelegenheit der zentralen Wissensplanung, -lenkung und -verwaltung und der hierzu
erforderlichen Politisierung des gesamten Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschehens.
Sozialtechnisch hat sich eine Affinitat zwischen Zentralverwaltungswirtschaft, verti-
kaler Branchenplanung und raumlicher Ballung von Industriebetrieben und -
beschaftigten ergeben - zumal eine starke Unternehmenskonzentration den zentralen
Lenkungsinstanzen die Moglichkeit verspricht, die bei der Planung der Zweig- und
Volkswirtschaftsprozesse aufzuwendenden Such-, Aushandlungs- und Kontrollkosten
(Transaktionskosten) zu senken. Auβerdem boten vor allem die Hauptstadte eine starke
Konzentration der politisch-bürokratischen Planungs- und Lenkungsinstanzen, des
Hochschulwesens und der wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen.
Die hierdurch begründete Agglomeration von Industriebetrieben, verstarkt durch die
Methode der von der Sowjetunion beherrschten Wissens- und Arbeitsteilung nach der
Methode der vertikalen, also branchenbezogenen Spezialisierung im Rat für Gegenseiti-
ge Wirtschaftshilfe (RGW), hat dazu geführt, daβ ganzen Regionen oder Stadten eine
industrielle Monostruktur aufgezwungen worden ist. Deshalb wurden die Menschen
haufig von einem Betrieb oder von vergleichsweise wenigen Betrieben abhangig. Kol-
lektivierung und forcierte Industrialisierung waren insgesamt mit einer staatlich gelenk-
ten Binnenwanderung zugunsten der politisch bestimmten Industriezentren verbunden:
Im System der zentralen Wissensverwertung auf nationaler und supranationalen E-
bene wurde die Standortpolitik zugleich als machtvolles Instrument eingesetzt, um
durch gezielte Gesellschaftspolitik (Zwangsnivellierung im Sinne einer Proletarisierung
der Bevolkerung ganzer Regionen) das kommunistische Herrschaftssystem zu starken.
Hierfür dürfte das Stahlwerk Nova Huta in der Nahe der Konigsstadt Krakau ein Para-
debeispiel sein. Was brachte der Versuch einer hochgradig interventionistisch-
konstruktivistischen Industriepolitik in den Landern des RGW und auf der Ebene des
RGW?
- Eine politisierte, wirtschaftlich zusammenhanglose Ressourcenallokation,
- autarkistische und innovationsfeindliche Bestrebungen in allen Branchen,
- okonomischer Niedergang. Dieser konnte auch durch branchenspezifische
Nachahmungsstrategien, orientiert an den Wirtschaftsstrukturen der marktwirt-
schaftlichen Industrielander, und einen umfangreichen Neuerungs- und Prob-
lemlosungsimport (Wagner 1980, S. 305 ff.) aus dem Westen nicht verhindert
werden.
In der Transformationspolitik nach 1989 war vor diesem Hintergrund ein Streit in der
Frage zu erwarten: Wie ist mit den überkommenen „Industriekernen“ zu verfahren?
Sollen die bisherigen Agglomerationen dominierend vom Markt oder vom Staat besta-
tigt und finanziell getragen werden? Wie weit wirken bisherige Agglomerationsvorteile
der alten Industriezentren (etwa aufgrund der Infrastruktur und der Humankapitalan-
sammlung) im wettbewerblich-marktwirtschaftlichen Prozeβ des Neuaufbaus der Wirt-
schaft fort? (Siehe hierzu Groner und Baumann 1994; Gutmann 1994; Klemmer 2001,
S. 195 ff.).