Der Einfluß der Direktdemokratie auf die Sozialpolitik



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Krankenkassen oder direkt an der Stimmurne wie die Reform der Krankenversicherung unter Ein-
schluβ einer Mutterschaftsversicherung im Jahr 1987. Der Verzogerungseffekt des Referendums ist
allerdings nicht nur auf den Bereich der Sozialversicherung beschrankt. Sowohl eine Reform des
Bundesgesetzes über das Dienstverhaltnis der Bundesbeamten als auch die Einführung von Unter-
stützungsleistungen für kriegsgeschadigte Auslandsschweizer wurden durch ablehnende Referen-
dumsentscheide um mehrere Jahre hinausgeschoben.

Tabelle 5: Lag-Effekt des Referendums bei der Einführung zentraler Sozialversicherungszweige

Gesetz

Verfassungs-
kompetenz
(1)

1.Gesetz

(2)

a

(2-1)

Referendum

(3)

2.Gesetz

(4)

Inkraft-
treten
(5)

Spanne
in Jahre
b

(5-1)


Referendumc
(5-3)

KV

1890

1899

9

1900

1911

1914

24

14

UV

1890

1899

9

1900

1911

1918

28

18

AHV

1925

1931

6

1931

1946

1948

23

17

Mutterschaft

1945

d 1987

42

1987

e 1998

e 1999

e54

e 12

Anmerkungen: a = Differenz zwischen Verfassungskompetenz und 1. GesetzesbeschluB; b = Spanne zwischen
Verfassungskompetenz und dem Inkrafttreten des Gesetzes; c = Verzogerung durch das Referendum (Spanne
zwischen dem Referendum und dem Inkrafttreten); d = Mutterschaftsleistungen wurden in das Krankenversi-
cherungsgesetz integriert. Es handelte sich somit um keine eigenstandige Mutterschaftsversicherung; e = vor-
aussichtliche Verabschiedung bzw. Inkrafttreten. AHV = Alters- und Hinterlassenenversicherung; UV = Un-
fallversicherung; KV = Krankenversicherung.

Der strukturelle Effekt des fakultativen Referendums kann primar anhand der sozialversicherungs-
rechtlichen Abstimmungen festgemacht werden. Dabei wurde die strukturelle Konzeption sozialer
Sicherung in liberale Bahnen gelenkt. Exemplarisch kann dies für die Krankenversicherung gezeigt
werden. Inspiriert durch etatistische Versicherungslosungen in Deutschland und Osterreich versuch-
te der vom Freisinn dominierte Bundesrat im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, auf Bundes-
ebene eine stark an diesen Vorbildern ausgerichtete Kranken- und Unfallversicherung einzuführen.
Speziell sah der ohne Anhorung der Interessenverbande ausgearbeitete Entwurf (Neidhart 1970)
eine obligatorische Kranken- und Unfallversicherung für einen Groβteil der Arbeitnehmer vor, die
von den Arbeitnehmern, den Arbeitgebern und der offentlich Hand finanziert werden sollte. In or-
ganisatorischer Hinsicht stützte sich das als Lex Forrer bekannte Projekt auf offentliche Kassen,
wobei für die Unfallversicherung ein Tragermonopol einer offentlich-rechtlichen Versicherungsge-
sellschaft vorgesehen war (Tschudi 1989). Aufgrund bislang fehlender Bundeskompetenzen und
des foderalen Staatsaufbaus hatte sich auf dezentraler Ebene jedoch ein breites Netz an wechselsei-
tigen Unterstützungskassen ausgebildet, um den durch die frühe Industrialisierung induzierten so-
zialen Problemdruck abzufedern. Angesichts der drohenden Bundesintervention durch Einrichtung
offentlicher Kassen fürchteten private Krankenkassen um ihr Geschaft, wahrend die Arbeiter ihre
selbstverwalteten Hilfskassen in Gefahr sahen. Bauern und Kleingewerbetreibende sowie Teile der
Industrie lehnten das Gesetz ab, da enorme Soziallasten befürchtet wurden. Schlieβlich opponierten
vorwiegend in der Westschweiz beheimatete liberal-konservative Gruppen gegen die Versiche-
rungspflicht, die - wie die Vorlage insgesamt - als Beginn des Staatssozialismus gebrandmarkt



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