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wirkt das Referendum kurzfristig als Stabilisator des Status quo und unterstützt mittelfristig eine
Reformpolitik der kleinen Schritte: Das Referendum bremste nicht nur die Expansion des Sozial-
staates, sondern erschwert auch einen radikalen Kurswechsel in der Sozialpolitik in eine neoliberale
Richtung. Dies zeigt sich, wenn Intensitat und Ergebnisse Sozialpolitischer Referenden mit den drei
zentralen Phasen wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung kontrastiert werden (Tabelle 4).
Tabelle 4: Anzahl von fakultativen Referenden nach wohlfahrstaatlicher Entwicklungsphase und
sozialpolitischer Wirkung der Vorlage (Zahl der verworfenen Vorlagen in Klammer)
Phase |
Expansiv |
Expansiv / Restriktiv |
Wirkung Deregulativ |
Regulativ |
Protektiv |
Entstehungsphase (1874-1945) |
4(3) |
0 |
2(2) |
0 |
4(2) |
Golden Age (1946-1975) |
2(1) |
0 |
0 |
2(1) |
2(1) |
Konsolidierung (1976-1998) |
2(1) |
5(0) |
2(2) |
0 |
0 |
Tabelle 4 macht die Bremswirkung des fakultativen Referendums in der wohlfahrtsstaatlichen Ent-
stehungsphase deutlich: 3 von 4 sozialstaatsexpansiven Vorlagen sowie die Halfte der protektiven
Vorlagen wurden durch Referenden zu Fall gebracht, die ausschlieβlich von rechtsbürgerlichen
Gruppen und/oder Interessenorganisationen der Unternehmer initiiert worden waren. Offenkundig
ist ferner, daβ in der Wohlfahrtsstaatlichen take-off Phase nach 1945 relativ wenige sozialpolitische
Reformvorhaben mit dem Referendum attackiert wurden, wahrend die Zahl der Referenden in den
letzten beiden Dekaden wieder angestiegen ist. Eine Aorierende Okonomie entspannt wesentlich
den Verteilungskampf, wahrend in Zeiten wohlfahrtsstaatlicher Austeritatspolitik die Konflikthau-
figkeit zunimmt. Dabei haben Vorlagen, die ausschlieβlich auf eine sozialstaatliche Deregulierung
abzielen, keine Realisierungschance.
Die quantitativ erfaβte Blockadewirkung des Referendums bildet allerdings nur eine Dimension
hinsichtlich der Wirkung der Direktdemokratie auf die Sozialpolitik ab und klammert qualitative
Effekte aus. Bei naherer Analyse konnen drei qualitative Effekte des Referendums identifiziert wer-
den: ein zeitlicher Verzogerungs-, ein Struktur- sowie ein Ausgabenniveaueffekt.
Der Verzogerungseffekt durch das Referendum bezüglich der Einführung ausgewahlter Sozialversi-
cherungszweige ist in Tabelle 5 dargestellt, die zusatzlich auch den durch die Zweiphasengesetzge-
bung bedingten Lag-Effekt widerspiegelt. Das obligatorische und fakultative Referendum führten in
den sozialstaatlichen Kernbereichen der Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung zu einer Aus-
dehnung des sozialpolitischen Reformprozesses um mehr als zwei Jahrzehnte. Dabei zeichnet allein
das fakultative Referendum für eine durchschnittliche Verzogerung von ca. 15 Jahren verantwort-
lich. Das Referendum reprasentiert damit einen hartnackigen Bremsschuh für wohlfahrtsstaatliche
Reformpolitik. Drastisch ist das Beispiel der Krankenversicherung. Nachdem bereits der Erstent-
wurf im Jahr 1900 ausgehebelt wurde und der Zweitentwurf nur knapp im Jahr 1911 die Referen-
dumshürde überstand, scheiterten bis 1994 mit einer Ausnahme alle groβeren Reformvorhaben
entweder an bloβen Referendumsdrohungen der einfluβreichen Interessengruppen der Àrzte und