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deutig der Fall (Obinger 1998). Demgegenüber entziehen sich viele der von der Linken eingebrach-
ten Initiativen aufgrund ihrer Staatsinterventionistischen Stoβrichtung einer parlamentarischen Ak-
kordierung mit den Interessen bürgerlicher Sozialpolitiker. Dies gilt primar für Initiativen der PdA
und der POCH, die zumeist mit einer Ablehnungsempfehlung von Parlament und Bundesrat an die
Stimmurne gelangen, wahrend aufgrund der 1959 endgültig abgeschlossenen Integration der SPS in
den Bundesrat die EinfluBchancen der Sozialdemokratie erheblich besser geworden sind. Erfolglos
waren hingegen alle bislang vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) und dem Landesring
der Unabhangigen lancierten Initiativen zur Verkürzung der Arbeitszeit, was in einer im internatio-
nalen Vergleich sehr hohen Wochenarbeitszeit seinen Niederschlag findet.
Indirekte Effekte der Volksinitiative sind auch darin zu sehen, daβ zu sechs Volksinitiativen ein
direkter Gegenvorschlag des Parlaments unterbreitet wurde, der sich in zwei Fallen (3-
Saulenmodell in der Alterssicherung 1972 bzw. Forderung des Wohnbaus 1972) gegen die Initiati-
ve durchsetzte. AuBerdem wurden vier Gegenvorschlage der Bundesversammlung als obligatori-
sche Referenden angenommen (Schutz der Familie 1945, Gleichstellung von Mann und Frau 1981,
Absicherung der Rechte der Konsumenten 1981 bzw. Mieterschutz 1982), nachdem die Initiative
zurückgezogen wurde.
Um die Wirkung der Volksinitiative auf den sozialpolitischen Entscheidungsprozeβ adaquat ab-
schatzen zu konnen, ist es notwendig, zwischen den einzelnen Hauptphasen sozialstaatlicher Ent-
wicklung zu unterscheiden. Die Kernthese von Bratschi (1969: 137), wonach der Volksinitiative
eine „entscheidende Bedeutung“ für die Sozialgesetzgebung zukommt, ist in dieser globalen Form
nicht haltbar. In der wohlfahrtsstaatlichen Formierungsphase bis zum Zweiten Weltkrieg spielte die
Volksinitiative eine nur geringe Rolle und zwar sowohl im Hinblick auf eine katalysierende als auch
auf eine materielle Wirkung. Viele der Initiativen wurden verschleppt oder hatten keine oder gerin-
ge indirekte Effekte (Sigg 1978: 136, 199). Betrachtliche Schubwirkung entfaltete die Volksinitiati-
ve erst in der Nachkriegszeit bis zu Beginn der 70er Jahre. Wie Werder (1978) aufgezeigt hat,
konnte mit Hilfe zahlreicher Volksinitiativen der Ausbau der AHV, die Herabsetzung des Rentenal-
ters und die Einführung einer Invalidenversicherung beschleunigt werden. Wichtige Reformimpulse
gingen auch von den Wohnbau- und Mieterschutzinitiativen aus (Werder 1978: 161). Die Legislati-
ve reagierte zumeist mit indirekten Gegenentwürfen auf Gesetzesebene, wodurch der Ausbau des
Sozialstaates beschleunigt wurde. Seither nimmt die Schubwirkung der Volksinitiative wieder ab.
Die bürgerlichen Parteien haben seit 1975 keine sozialpolitische Initiative mehr lanciert, wahrend
die auf einen Kurswechsel in der Renten- und Krankenversicherung abzielenden Initiativen von SPS
und SGB Niederlagen erlitten haben. Betrachtliche Wirkungen entfaltete der auf eine Volksinitiative
zurückgehende neue Verfassungsartikel über die Gleichstellung von Mann und Frau (1981), der
den StartschuB zur Modernisierung und geschlechtsneutralen Ausgestaltung zentraler Sozialversi-
cherungsgesetze gab (Senti 1994).